Die Welt des Wolfs

Sonnenauge

Entwurf eines Märchens des Lebens



Es war einmal ein Reich, in dem alle korrupt waren und sich manipulieren ließen. Jeder dachte nur an sich und nützte zu seinem persönlichen Wohl alle möglichen Geräte und Mittel, die geschäftstüchtige Erfinder ihm aufschwätzten und verkaufen wollten. Auch der König und seine Regierung beteiligten sich daran, immer mehr zu konsumieren und für den Betrieb der Apparate die vorhandenen Energievorräte zu verbrauchen, so dass bald das ganze Land Mangel litt und Tiere, Pflanzen und selbst die Menschen immer schwächer wurden.

Inmitten dieses rapiden Verfalls wuchs ein kleiner Bub auf, dessen Mutter ihn fern hielt von diesem Rausch der Selbstsucht, so dass er seinen strahlenden kindlichen Blick nicht verlor und auch noch als er ein junger Mann geworden war, sich sein sonniges Gemüt bewahrt hatte. Seine Mutter nannte ihn "Sonnenauge", aber die Leute hielten ihn für närrisch und zurückgeblieben und riefen geringschätzig "Schwachkopf" hinter ihm her.

Dieser machte sich nicht aus dem Spott der Leute und lebte weiter auf seine kindliche Weise. Weitab vom Rummel der anderen, ohne auf Mode oder Ansehen zu achten, wohnte er in einem kleinen Häuschen, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte, als sie starb und pflanzte in dem Garten, der dazu gehörte, das Gemüse, was er zum Leben brauchte.

Was darin wuchs, gedieh prächtig und was er davon aß, ließ ihn groß und kräftig werden. Er hatte immer ein frohes Gemüt und war nicht angesteckt von der Missgunst und Habsucht, die draußen in dem Reich herrschten, wo die Menschen jedoch immer unzufriedener und verweichlichter waren. Doch je kräftiger er wurde, desto neidischer betrachteten ihn die anderen. Einige begannen nachts Gemüse aus seinem Garten zu stehlen, aber als er im Mondschein ihre schwächlichen Gestalten sah, empfand er nur Mitleid mit ihnen. Schließlich schlichen sich immer mehr Diebe hinein, bis für ihn selbst eines Morgens fast nichts mehr übrig geblieben war. Als er ein kränklich aussehendes Kind bittend davor stehen sah, gab er ihm den verbliebenen Rest und verließ die Stätte seiner Kindheit, ohne etwas anderes mitzunehmen als seinen sonnenhaften Blick und die lebendige Kraft in seinem Herzen.

Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte, Geld und Güter hatte er nie gehabt, so ging er einfach der Sonne nach, bis er bei ihrem Untergang zu einem Haus kam, vor dem ein alter Mann saß, der ihn aus müden Augen anblickte.

Der Mensch war sich seiner Kraft nicht bewusst und hatte sich auch nie gefragt, warum er so kräftig war und es ihm so gut ging. Deshalb wunderte er sich, als der Alte zu ihm sagte: "Einen Kerl wie dich habe ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen, wie machst du das bloß?" Er wusste nicht, was er antworten sollte und schaute ihn nur mit seinen leuchtenden Augen an. Da fuhr der Alte fort: "Ich dachte gerade, es wäre Zeit für mich zu sterben, aber wenn du mich so ansiehst, kehrt wieder Kraft in mich zurück. Willst du nicht hereinkommen über Nacht, ich habe eine kranke Frau, vielleicht kannst du ihr auch helfen." Der Mensch wusste nicht, wie er behilflich sein könnte, aber er nahm dankbar die Einladung an, denn es wurde schon Nacht.

Im Haus führte ihn der alte Mann zum Bett seiner kranken Frau und sagte: "Leiste ihr etwas Gesellschaft, inzwischen mache ich etwas für uns zu essen." Er setzte sich gern zu ihr, aber sie war zu schwach zum Sprechen und auch er sagte nichts. Schweigend sahen sie einander an, bis der Mann kam und ihn zum Essen einlud. Da sagte die Frau auf einmal: "Hast du auch für mich etwas gekocht?" Verwundert erwiderte ihr Mann: "Aber du konntest doch seit langem nichts mehr essen!" Ihre Stimme wurde bestimmter: "Aber jetzt habe ich plötzlich Hunger bekommen." Darüber freute sich natürlich ihr Mann und er gab ihr etwas von dem Essen.

Dann setzte er sich mit dem Menschen an den Tisch, füllte ihm den Teller und begann zu speisen, aber der Mensch rührte sich nicht. "Willst du nicht essen, schmeckt es dir nicht?" fragte ihn der Alte erstaunt. "Vorher danke ich still für die Speise und allen, die mitgeholfen haben, dass ich sie vor mir habe."-"Iss ruhig, ich habe das alles gekauft mit unserem Geld und wir müssen niemand dafür danken, du wirst hungrig sein und bist gern eingeladen." - "Dann danke ich dir und bedanke mich für dich mit!" Nach diesen Worten  begann auch der Mensch mit seinem Mahl, während ihn der Mann immer wieder verwundert ansah: "So einer wie du ist mir in meinem langen Leben noch nicht begegnet. Wo kommst du eigentlich her?" Nach dem Essen erzählte der Mensch seine einfache Geschichte, während der Alte immer wieder den Kopf schüttelte und schließlich meinte: "So kann man doch nicht leben!" Aber wenn er dabei das strahlende Leben in dem jungen Menschen vor sich sah, kamen ihm doch Zweifel und er brach das Gespräch ab: "Jetzt wollen wir schlafen gehen, es ist spät geworden."

Am anderen Morgen war der Mensch schon wach, als der Alte aufgeregt in seine Kammer trat: "Stell dir vor, meine Frau sitzt in der Küche beim Frühstück. Sie ist anscheinend ganz gesund." - "Freilich," meinte der Mensch bei sich, "ihr hat nur Leben gefehlt," und ging mit ihm in die Küche, wo sie alle zusammen dem glücklichen Umstand dankten.

Dann wollte sich der junge Mensch verabschieden und weitergehen, doch die beiden luden ihn ein, noch bei ihnen zu bleiben. Als er zustimmte, begannen die alten Leute, ihm von ihren Sorgen zu erzählen. Sie hatten eine Tochter, der es nicht gut ging, seit sie vor einiger Zeit von ihrem Mann verlassen wurde und mit ihrem Kind allein lebte. Das Kind war sehr krank, es hatte keine Lebensfreude mehr und redete nur noch vom Sterben. Schließlich fragten sie ihn, ob er die beiden nicht besuchen wolle und als er einverstanden war, ging der Alte mit ihm zusammen hin.

Sie trafen dort das Kind, das im Bett lag und mit leeren Augen an die Decke starrte. Die Mutter saß mit ihnen am Tisch, niedergeschlagen und schweigend. Es war ganz still in dem Raum. Auf einmal hörten sie das Kind: "Du bist so schön!" aber seine Mutter und sein Großvater verstanden nicht, was es meinte. "Wie schön du bist", wiederholte es und lächelte dabei. Nach einer Weile rief es: "Mama, ich möchte aufstehen!" und kam zu den dreien an den Tisch. Als es den Menschen in deren Mitte sah, sagte es leise: "Ich habe dich gerade schon gesehen, du warst ganz weiß und leuchtend und hast mich angelächelt." Der Großvater und seine Mutter schauten sich verwundert an, der Mensch schwieg. "Ich habe lange geschlafen, aber jetzt bin ich wieder wach," sprach das Kind lächelnd weiter, während ihre Mutter vor Freude zu weinen begann, als sich durch dieses Wunder auch ihre Schwermut auflöste.

Sie wollten, dass der Mensch noch länger bei ihnen bliebe, aber dieser brach am nächsten Morgen auf und niemand weiß, wohin er wanderte.

Wie eine Sonne, die Wärme, Licht und Leben mit sich brachte, ging er durch die Dunkelheit hindurch, die in dem Reich eingezogen war. Wo er hinkam und eingeladen wurde zum Bleiben, vertrieb er die Schatten und es kehrte dafür wieder Lebensfreude ein. Man sagt, dass er immer noch unterwegs ist, aber die Menschen denken, selbst wenn sie leiden, oft nur an sich und laden kaum noch jemand wie ihn zu sich ein.