Die Welt des Wolfs

Die glückliche Kastanie





Es war einmal eine muntere Esskastanie, die war gerade von einem Ast eines großen Baums gefallen, auf dem sie gewachsen war. Sie hatte aber keine Lust, da unten im Schatten zwischen den vertrockneten Blättern zu vermodern und wollte sich auf die Suche nach dem Licht der Sonne machen.





Nicht, dass die Kastanien einfach so gehen könnten, aber auf die eine oder andere Weise, etwas rollend, etwas rutschend kam sie dennoch voran.
Als das ein Eichhörnchen sah, näherte es sich neugierig in der Hoffnung, etwas nahrhaftes für seinen Wintervorrat sammeln zu können. Es schubste die Kastanie etwas an, stach sich aber gleich schmerzhaft an deren spitzen Stacheln, die sie an ihrer Hülle hatte und ließ schleunigst von ihrem Vorhaben ab.





Die Kastanie rollte dadurch ein gutes Stück weiter, bis sie gerade in einem kleinen Mauseloch zum Stillstand kam.
Von innen her hörte sie die ärgerliche Stimme der Maus, die hier wohnte: „Was machst du hier? Ich kann nicht mehr hinaus, geh sofort weiter!“
„Ich kann doch nicht, ich stecke hier fest,“ antwortete die unglückliche Kastanie.





Gerade in diesem Moment kam jedoch grunzend und schnüffelnd ein Wildschwein daher, das sie mit seinen Hauern ergriff und heraus holte, um sie zu fressen, aber die Spitzen ihrer Hülle stachen es schmerzhaft in seine Zunge, weshalb es die arme Kastanie wieder fallen ließ.

Abgeschreckt von diesem unerquicklichen Abenteuer ließ sie von einem weiteren Fortrollen ab und blieb dort auf dieser Wiese liegen.





Ihre grüne Hülle begann zu vertrocknen und platzte so in zwei Hälften auf, dass darin ihr braunrotes Gesicht hervor schaute und ein liebliches Lächeln zeigte.

Davon angezogen näherte sich ein Rabe in seinem Flug und sagte freundlich: „Was für ein schönes Lächeln du hast!“
Die Kastanie wurde noch röter als sie ohnehin schon war und wusste nicht, was sie antworten sollte.
„Was machst du hier so allein?“ fuhr der Rabe fort.
„Ich suche nach der Sonne, aber ich kann mich nicht weiter bewegen“, antwortete schüchtern die Kastanie.





„Ich könnte dich fort tragen, ich kenne einen schönen Platz, wo du für immer bleiben könntest.“ „Ja, nimm mich mit, helfe mir, für immer in der Sonne zu sein,“ stimmte die Kastanie voll neu erwachter Hoffnung freudig zu.
Der Rabe pickte die Reste ihrer stachligen Hülle weg und nahm sie, jetzt ganz leuchtend und glänzend, behutsam in seinen Schnabel und flog mit ihr zu einem sonnigen Hügel. Dort setzte er sie behutsam ins Gras und sagte: „Hier kannst du jeden Tag die Sonne genießen.“
„Wie schön, du hast mich zu einem herrlichen Platz gebracht,“ erwiderte die Kastanie dankbar, „ich bin so glücklich und will hier mein ganzes Leben bleiben.“
Zufrieden grüßte sie der Rabe und flog weiter.





Der Herbst verging und die Kastanie schlief friedlich ein. Im Winter wurde sie von einer schützenden Schneedecke bedeckt, bis diese im Frühling von der wärmenden Sonne schmolz.
Anstelle der Kastanie kam jetzt aus der Erde heraus der Keim eines kleinen Kastanienbaums, der nach einigen Jahren hier nicht nur wunderschön heranwuchs, sondern der sich um sich herum zu einem fruchtbaren Hain von Esskastanien vermehrte.





Illustrationen von Grazia Baffigi



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