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Die Welt des Wolfs


Geburtstag

30. 4. 2021



flieder

1

Morgens um sieben bin ich zur Welt gekommen,
Hitler hat sich am selben Abend das Leben genommen,
mein Vater war gefangen, weit weg von daheim,
meine Mutter stand vor ihrem zerbombten Heim.

In dieser Stunde Null, habe ich die Welt erblickt,
aus der Wärme ihres Bauchs wurde ich heraus gedrückt,
in eine kalte und fremde Zeit hinein,
größer konnte der Kontrast nicht sein.

Voll neuem Leben kam ich herunter an dem Tag,
als die alte Macht in Schutt und Trümmern lag,
ich musste voll Schrecken das Leid der Opfer bewahren,
die im Rauch an mir vorüber aufgestiegen waren.

2

Der Jubel und das Kriegsgeschrei,
das Heulen der Sirenen waren schon vorbei,
doch die Melancholie ist mir geblieben,
schwer war es mir, aus freiem Herzen zu lieben.

In der Hoffnung auf Frieden wollte beginnen
der Wiederaufbau aus den Ruinen,
Rudi Schuricke sang aus dem Grammophon
von Florenz und Capri mit schnulzigem Ton,

Doch bald schon begannen in der Welt erneut
zwischen den Menschen Hass und Streit,
sie rüsteten auf mit schweren Waffen,
die immer entferntere Ziele trafen.

3

Nach dem Zusammenbruch, in meinen ersten Jahren,
habe ich die Vergangenheit noch an mir erfahren,
erzogen und unterrichtet in der alten Mentalität
erwachte der Geist des Menschseins in mir spät.

Helfe und rette sich wer kann,
mit diesem Motto fing der Aufbau an,
geprägt vom Egoismus, statt von Brüderlichkeit,
machten sich oben bald wieder die Fettaugen breit.

Sie brüsteten sich: Wir sind wieder wer,
für die Leute unten blieb das Leben schwer,
das Wunder erreichte sie nur in Krümeln,
um die Fleischtöpfe wollten sich andere kümmern.

4

Mit fettem Wanst und dicker Zigarre
wurden vermischt das Falsche und Wahre,
vorne wurde den Armen von Maßhalten erzählt,
hinten mehrten die Reichen ihr Geld.

Der Idealismus, verbrannt von den braunen Scharen,
wurde ersetzt durch den Konsum von Gütern und Waren,
derweil wucherte der völkisch ertüchtigte Sinn
weiter unter der Decke des Wohlstands dahin.

So ließen sich viele Jahre zählen,
die Dinge dominierten immer mehr die Seelen,
das Denken verhärtete sich zu Stein,
nur das Eigene war wichtig allein.

5

Es kam nicht durch das, was ich machte,
dass ich eines späten Tages erwachte,
wie aus einem langen und schweren Traum,
hob sich des dichten Vorhangs Saum.

Hinter den Illusionen der Spiegelwelt
zeigte sich das Licht aus dem Sternenzelt,
und mit dem neu erweckten Blick
kam mir auch die Erinnerung zurück.

Diesmal sah ich mich aufwärts steigend,
mühsam mich aus Müllbergen befreiend
und mir begegneten die Kinder mit besorgten Mienen,
die herab kamen, um sich zu inkarnieren.


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