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Die Welt des Wolfs

9. Brief (vom 7. 3. 2021)

Über die Diktatur der Technik


Liebe Kinder von morgen,

es ist schon eine ganze Weile her, seit ich euch das letzte Mal geschrieben habe. Damals dachte ich noch, die Verhältnisse würden anders werden und ihr könntet früher kommen. Hier hat sich in dieser Zeit aber viel verändert und eure Ankunft wird dadurch sicher verzögert, denn die Kinder, die inzwischen geboren werden, können sich nicht lange entwickeln, sie werden schon bald in die Welt der Erwachsenen hinein gezogen. Diese ist immer weniger kindgemäß geworden und entspricht auch insgesamt nicht mehr dem Maß von uns Menschen. Wir sind überall zu Konsumenten geworden, immer weniger nützen noch frei ihre kreativen Fähigkeiten. Ihr werdet das kaum verstehen können, da ihr ja gerade deswegen hierher kommen wolltet, um alle eure menschlichen Fähigkeiten entfalten zu können!

Wir sind es gewohnt, dass die Technik für uns handelt. Statt unsere Glieder zu gebrauchen, lassen wir uns fahren von Verkehrsmitteln und übertragen unsere Arbeit an Roboter, die Tag und Nacht Dinge produzieren, deren Gebrauch uns selbst so mechanisch werden lässt, wie sie es sind. Es wird für euch kaum verständlich sein, warum wir uns alle freiwillig versklaven und kommandieren lassen von piepsenden Instrumenten und dabei noch meinen, dass dies unserem Wohlbefinden dient, wo ihr doch gerade sehnlichst darauf wartet, endlich euch selbst kreativ betätigen zu können.

Stellt euch vor, wir sind alle Zuschauer in unserem Leben geworden und nutzen nicht unseren eigenen Geist, sondern lassen uns leiten von der Intelligenz, die in Geräten wirkt, mit denen wir ausgestattet sind. Statt den Blick zu erheben zur Weite der Welt, in der wir lebten wie ihr, starren wir auf Bildschirme, die unsere Seelen faszinieren und dirigieren. Immer weniger können sich diesem Anreiz entziehen und kommunizieren nur noch durch diese Masken mit anderen. Wirklich schlimm ist aber, dass diese bunten Gläser mit ihren bewegten Bildern schon den kleinsten Kindern in die Hand gegeben werden, wenn sie noch ganz weich und prägsam sind. Während ihr so sehr darauf gewartet habt, endlich eure Seelenflügel entfalten zu können, verkümmern sie heute schon, bevor die Kinder reif sind, um sie zu gebrauchen. Das ist wirklich Ernst und ich weiß nicht, wie das überwunden werden kann. Ihr wisst ja selbst, wie schwer es für euch geworden ist, noch Eltern auf der Erde zu finden, die euch ein angemessenes Wachsen und Reifen ermöglichen konnten.

Von hier aus scheint es, als würden wir auf einen Endpunkt zusteuern, doch ihr wisst inzwischen, dass es nur ein Wendepunkt war, denn ihr habt die Kräfte kennengelernt, die einen Wandel bewirkten und habt euch diese mitgebracht, um hier zu überleben trotz den Bedingungen, die auch zu eurer Zeit noch spürbar sein werden. Die meisten von uns können sich noch nicht mit einer solchen Kraft verbinden, im Gegenteil, alles, was heute eine Veränderung bewirken will wird feindselig aufgenommen und verstärkt nur die Tendenz der Entmenschlichung und Technisierung.

Es ist für euch sicher unvorstellbar, wie dadurch eine wachsende Isolierung der Menschen einher geht. Wir begegnen einander immer seltener und erleben kaum noch Momente, in denen wir uns gegenseitig verständigen und verstehen. Um dem zu entgehen, bilden sich Gruppen und Grüppchen, die aber nicht lange aus einem Gemeinsinn leben, sondern in denen bald alle den Ton angeben wollen und miteinander streiten, da einer den anderen zu seiner Überzeugung überreden will.

In diesem permanenten Streiten aller gegen alle suchen allenthalben die Menschen nach starken Anführern, die ihnen die eigenen Schwächen ersetzen sollen. Sie finden zwar solche, die sich stark erscheinen lassen und sich nicht scheuen, mit Gewalt ihre Macht zu demonstrieren, aber keiner hat einen langen Atem, dann bricht ihr Kartenhaus zusammen und sie hinterlassen noch katastrophalere Zustände als zuvor.

Ihr habt es nicht nötig, eure menschlichen Kräfte mit technischen Prothesen zu verstärken und habt auch das einseitige Streben nach Profilierung überwunden. Keiner von euch muss sich erst sein Selbstbewusstsein hier erringen, jeder bringt schon seine Identität mit sich und lebt in dem Bewusstsein, dass niemand euch diese nehmen kann. Ihr wollt eure Eigenart auch nicht nur für euch behalten oder sie zu eurem Nutzen verwenden, sondern seid bereit, damit der Entwicklung der anderen und dem Werden der Vielfalt in der Welt zu dienen. So etwas erscheint heute noch ganz utopisch und weltfremd zu sein.



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