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Die Welt des Wolfs

5. Brief (vom 11. 1. 2001)

Über die Generation des Übergangs

Wir waren die Generation des Übergangs. Vor uns lebten die Menschen noch weitgehend nach aussen orientiert, sie fanden ihre Identität, indem sie sich selbst durch ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen definierten und sich vorwiegend an den Gegebenheiten der sichtbaren Welt orientierten. Sie gehorchten den Richtlinien der Gesellschaft, lebten in den Traditionen, die ihnen von ihren Vorfahren vorgegeben waren und wandten die wissenschaftlichen Ergebnisse an, die sie aus ihrer Naturbeobachtung entnahmen. Es gab wohl einzelne, die sich dem Diktat dieser Gesetze nicht unterwarfen und aus der Kraft ihres eigenen Wesens lebten, aber sie galten als Aussenseiter oder Narren und mussten sich ihr Leben am Rande der bürgerlichen Ordnung suchen.

Gleichzeitig begannen jedoch allgemein in unserer Gerneration die Bindungen an das Althergebrachte auf breiter Front abzubrechen. Losgelöst von dem Bann der geschriebenen und ungeschriebenen Regeln und Vorschriften der bisherigen Gebräuche, lebten immer mehr Menschen nach ihrer eigenen Überzeugung, aber wir waren doch noch weitgehend in der Welt verhaftet, in der man sich nach äußeren Vorgaben richtete und ein Vorwärtskommen davon abhing, ob sich jemand an das allgemein Akzeptierte hielt. Wir begannen nur zögerlich, aus unserer eigenen Verantwortung und nach unserer eigenen Überzeugung zu leben und gleichzeitig uns aufzuschließen für die Eigenart all dessen, was uns gegenüber trat.

Wir waren zwar schon befreit von den hergebrachten Bindungen an Beruf, Familie, Volk, Staat, aber wir waren doch noch nicht frei genug, um einander offen und vorurteilsfrei begegnen zu können. Die einen suchten weiterhin nach dauerhaften Beziehungen, fester Partnerschaft, wenn auch oft außerhalb der traditionell vorgeschriebenen Bahnen, die anderen scheuten sich vor tief wirkenden Begegnungen zu anderen Menschen aus Angst, ihre gewonnene Freiheit zu verlieren. Es gab wenige, die eine intensive Begegnung mit einem anderen Menschen erleben konnten, ohne diesen in Besitz nehmen oder an sich binden zu wollen.

Ihr werdet zwischen diesen Extremen zu einer Begegnungsfähigkeit finden, die es euch erlaubt, völlig ihr selbst zu sein und gleichzeitig euch vorbehaltlos mit dem Wesen eines anderen Menschen verbinden zu können. Ihr werdet euch auch als Erwachsene wieder wie Kinder begegnen und jeden Augenblick intensiv ausschöpfen, dabei ganz in der Begegnung mit der Welt und den Menschen aufgehend, ohne im Vertrauten zu verharren und in allem nach einer Bekanntheit zu suchen, aber auch ohne in allem Andersgearteten etwas Feindliches zu befürchten.

Ihr seid die Kinder der Zukunft nicht nur, weil ihr die später geborenen seid, sondern weil ihr zurückfinden werdet zu der Kindlichkeit des menschlichen Wesens. Da ihr euch dabei gleichzeitig die Erfahrung und Erkenntnis des gereiften Menschen bewahren werdet, seid ihr nicht zum Scheitern in der Welt verurteilt, in der allein der Verstand regiert, sondern könnt über diese hinauswachsen und mit eurem Einfallsreichtum, eurer Spontaneität und Freude am Gestalten euer Leben auch ohne die stützenden Vorgaben der genormten Wege und standardisierten Muster menschlichen Zusammenlebens auf immer neue Weise entwickeln.

Die meisten von uns suchten zwar auch danach, ihre Individualität auszuleben, sich selbst zu verwirklichen, wie es zu unserer Zeit hieß, aber sie suchten gleichzeitig noch nach der Bestätigung für die Richtigkeit des eigenen Verhaltens, warteten auf das Echo der anderen, um sich durch sie über die in uns selbst liegende eigene Wahrheit zu vergewissern. So lebten wir in einer Zeit, in der jeder, der sich aus der vorgegebenen Marschroute herauslöste, zunächst in einen Widerspruch zwischen sich und seiner Umgebung geriet. Die Folge war eine um sich greifende Zerrissenheit zwischen dem, was an Werten anerkannt war durch die Gesellschaft und dem, was im einzelnen selbst individuell und einzigartig begründet war und nach Verwirklichung drängte.

Für euch wird der Konflikt kaum mehr verständlich sein, zwischen der existentiellen Bedrohung der Identität des einzelnen und der Angst vor der Vernichtung der Werte der Gesellschaft und Kultur. Ihr werdet eure Größe nicht mehr nur daran messen, wie weit ihr übereinstimmt mit den Vorgaben und Normen eurer Mitmenschen, sondern werdet in der Lage sein, euren eigenen Wert aus euch selbst heraus zu bestimmen und diesen in die Gesellschaft hineinzutragen. Wo wir noch weitgehend daran gemessen wurden, ob wir Vorgegebenes nachvollziehen, Erwartetes erfüllen konnten, wird es für euch selbstverständlich sein, eigene Lösungen zu finden, eigene Maßstäbe zu schaffen. Während in unserer Zeit eigenwilliges Vorgehen oft als abartig, revolutionär verdächtigt und unterdrückt wurde, wird es für euch selbstverständlich sein, mit unerwarteten, außergewöhnlichen, aus dem Rahmen fallenden Antworten auf die Probleme eurer Zeit zu reagieren.

Wenn wir nach Vorbildern für solches Verhalten suchten, mussten wir noch weit in der Geschichte zurückgehen, um dieses kreative Potential in uns Menschen in einer Persönlichkeit wie der Leonardo da Vincis aufleuchten zu sehen. Bei euch wird sich dieses Prinzip in jedem einzelnen von euch regen und ausdrücken wollen. Nicht nur auf der Stufe genialen prophetischen Wesens, sondern an jedem Platze eures Wirkens werden die äußeren Anforderungen und euer inneres Korrespondieren nicht mehr vom Geist der Anpassung und Wiederholung, sondern von Erfindergeist und individueller Ausschöpfung des Augenblicks geprägt sein. Dabei wird es euch selbstverständlich sein, dass ihr euch nicht zurückzieht von den anderen Menschen, wenn ihr eure Eigenart finden wollt, dass ihr euch nicht abgrenzen und abheben wollt von den anderen, sondern dass ihr gerade dadurch zu eurem Menschenwesen finden werdet, weil ihr euch mit eurer ganzen Individualität in Beziehung setzen könnt zum Ganzen der Gesellschaft und zur Welt, in der ihr lebt.

Wir bildeten in unserer Zeit die Brücke zwischen den vergangenen Wegen unserer Vorfahren, die die Welt eroberten und sich selbst dabei verloren, weil sie sich einseitig an die sichtbaren Erscheinungen und ihre Gesetze gebunden hatten, und eurem Weg, der euch wieder zu eurem in euch wohnenden eigenen Wesen zurückfinden lässt, ohne dass ihr dabei die Basis verliert, die sich die Menschheit bis zu eurer Zeit schaffte.

Während wir zwischen der Freiheit unseres Ichs und der Gebundenheit an die Welt und unsere Mitmenschen noch hin- und herschwankten, werdet ihr es verstehen, aus eurer individuellen Freiheit heraus die Verantwortung für euch selbst und eure Welt zu übernehmen.

Wir sind noch in eine Welt hineingeboren worden, in der nur das Sichtbare, Messbare, Greifbare zählte und wurden erst allmählich wach für das schöpferische Wirken hinter der sichtbaren Fassade der Welt der sinnlich fassbaren Erscheinungen und in uns selbst, ihr werdet bereits mit dem Bewusstsein auf die Welt kommen für die Präsenz eures von Körper und Erde unabhängig wirkenden Ichs.

Ihr werdet in der stofflichen Welt verkörpert und in diese integriert sein können, ohne das innere Wesen zu verlieren, das eure Individualität ausmacht und ohne dass euch die Erinnerung an euren geistigen Ursprung abhanden kommt. Dadurch werdet ihr immer dann, wenn die Zwänge des Stofflichen Überhand zu nehmen drohen, anknüpfen können an dem freien Schöpfergeist, der in euch lebendig ist. Solltet ihr Gefahr laufen, euch von euren geistigen Fähigkeiten verleiten zu lassen, das Erdenleben zu missachten, werdet ihr euch rechtzeitig daran erinnern können, wie wertvoll dieser Aufenthalt in einem Körper aus Fleisch und Blut für die Entwicklung eines freiheitlichen Menschenwesens für uns ist.