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Die Welt des Wolfs

1. Brief (vom 26. 8. 1999)

Über die Freiheit

In unserer Zeit suchte jeder seine individuelle Freiheit. Wir wollten die Freiheit für die Erfüllung unserer persönlichen Ansprüche nützen. Wenn einer sagte: Ich will meine Freiheit haben, meinte er, dass er tun und lassen wollte, was ihm behagte. Ihr werdet begreifen, dass die Freiheit nicht aufteilbar ist, vom einzelnen nicht für sich und seinen persönlichen Willen beansprucht werden kann, ohne sie im selben Maße auch den Mitmenschen zuzugestehen. Für Euch wird die Freiheit etwas Unteilbares sein.

Die Freiheit entfaltet ihren Wert und ihre Kraft erst, wenn alle daran Anteil haben. Solange wir die Freiheit nur nützen, um unseren Vorteil zu suchen, können wir die Flügel nicht ausbreiten, die sie uns verleiht und wir tragen weiter an der Last der Erdenschwere, mühen uns vergeblich ab, um dieser zu entgehen und uns in ein leichteres Leben aufzuschwingen.

Wir blieben Gefangene unserer Abgrenzung, die wir uns selbst geschaffen hatten, da wir unsere Freiheit den anderen vorenthielten. Je mehr Eifer wir an den Tag legten, um unsere Unabhängigkeit zu erringen, desto dunkler und finsterer wurde die Nacht um uns. Wir lebten in selbstgewählter Isolationshaft, versuchten uns in persönlichen Schutzbunkern vom Schicksal der anderen zu retten, voller Angst, jemand könnte eindringen in den Raum unserer Privatsphäre. Weil wir nur unseren eigenen Anteil der Freiheit in unserem Leben akzeptieren wollten, lebten wir in ständiger Angst, diese könne bedroht, eingeschränkt, uns weggenommen werden.

Unser größter Feind wurde der Tod, der unser Streben nach Freiheit des Handelns nicht respektierte. So sehr wir ihn bekämpften und aus unserem Leben zu drängen versuchten, so sehr wir vor ihm davonrannten, wir hörten doch immer seine Stimme rufen: Ich bin das Ende Eurer Freiheit!

Wenn Ihr einmal die Freiheit ungeteilt und ganz annehmen werdet, wird sie Euch nicht mehr genommen werden können. Ihr werdet die Kinder der Freiheit sein, wir waren ihre Sklaven. Wir grenzten uns voneinander ab und ließen nur feste Bindungen untereinander zu, ihr werdet fähig sein, in jedem Augenblick Euch frei zu begegnen und Eure Last und Not gegenseitig zu tragen. Für Euch wird es keine Frage sein, dass Ihr Eure Freiheit braucht, um allein mit den Anforderungen des Lebens zurechtkommen zu können, ihr werdet Eure Freiheit nützen, um Eure Kräfte weiterzugeben, wo sie gebraucht werden und die Kräfte der anderen zu empfangen, wo Ihr sie braucht.

Eine Beziehung ruhen oder los zu lassen, in der es nichts zu erfüllen gibt, wird für Euch so selbstverständlich sein, wie eine Beziehung neu zu knüpfen, wo eine gegenseitige Ergänzung vonnöten ist. Es wird für Euch keinen Grund mehr geben, eine Beziehung nur formal aufrechtzuerhalten, wenn sie ihren gemeinsamen Sinn verloren hat und Euch gegenseitig durch sie einzuschränken und zu behindern.

Ihr werdet Euer Handeln orientieren an der Entwicklung des Lebens eines Menschen, am Fortgang der Schöpfung. Die Freiheit zu handeln wird höher stehen als die Frage, ob sich Euer Handeln lohnt, ob ein sichtbarer Erfolg zu erwarten ist. Und umgekehrt werdet Ihr bereit sein, die aus freiem Willen entspringende Zuwendung Eurer Mitmenschen anzunehmen, wenn sie Eurem Weiterkommen dient.

Für Euch wird die Freiheit das Mittel werden, Abgestorbenes zu überwinden und Euch immer wieder neu dem Lebendigen zu öffnen. Ihr werdet dem Tod seine Freiheit lassen können, so wie Ihr sie jedem anderen zugesteht und dadurch Euren Anteil am unsterblichen Leben der Freiheit gewinnen.