Die Welt des Wolfs

Der Wolf und die Meerjungfrau

Ein Märchen, erzählt vom Grund des Meeres zum Schatten des Waldes





Es war einmal ein Wolf, der außerhalb seines Rudels im Schatten eines fernen Waldes lebte. Er war ein sehr einsamer Wolf, den niemand sehr gut kannte, also hatten alle Angst vor ihm und mieden ihn. Besonders bei Vollmond spürte der Wolf stark seine Einsamkeit und heulte seine Melancholie hinaus in die Nacht. Es klang wie ein weinender Gesang, ja, er sang, wie nur Wölfe singen können, er weinte, wie nur einsame Wölfe weinen können - aber niemand schien ihn zu hören, kein Herz wurde berührt von seinem Lied, niemand kam ihm entgegen. Er blieb einsam wie kein anderer auf der Welt.





Nein, das stimmt nicht wirklich. Er war allein wie kein anderer auf der Erde, ja, aber weit weg von seiner Welt, auf dem Meeresgrund, in der unermesslichen Tiefe des Wassers, inmitten einer Welt wundervoller Farben, die von Menschen nie gesehen wurde, lebte eine wunderschöne Meerjungfrau. Diese Farben können sich nur Künstler mit ihrer immensen Fantasie und kreativen Vorstellungskraft vorstellen.





Trotz dieser bunten Welt jedoch, war auch die Meerjungfrau allein, genau wie der Wolf, weil sie die einzige Meerjungfrau im Meer war und niemand mehr nach ihr suchte, weil jetzt niemand mehr an die Existenz solch magischer Kreaturen glauben wollte, wie sie eine war.





In den Nächten des vollen Monds erblickte sie vom Grund ihres Meeres aus den runden Schein seines Lichts, das seltsam blass zwischen den Farben ihrer Welt schimmerte. Dann fühlte sie eine so starke Emotion, dass sie am liebsten hätte weinen wollen, aber wie wir wissen, sind Meerjungfrauen gezwungen, unter Wasser zu leben und wie Fische können sie keine Tränen vergießen.





Vom Mondlicht fasziniert und angezogen, stieg die Meerjungfrau an die Oberfläche, um dem Mond so nahe wie möglich zu kommen, aber sie konnte wie alle Meereswesen nicht vollständig aus dem Wasser herauskommen. So blieb sie still zwischen den sich leicht kräuselnden Wellen und sah den Mond traurig und melancholisch an.





Immer wenn sie so mit ihrem Körper aus dem Meer heraus ragte und das Mondlicht anhimmelte, hörte sie aus der Ferne ein Lied, das sie dem Mond zuschrieb und sagte zu sich selbst: "Es ist der Mond, der singt, der Mond, dessen Licht die Nacht erleuchtet Nacht, der Mond, der die Stille mit seinem Gesang erfüllt. Wir wissen, dass der Mond nicht singt, aber das bedeutet nicht, dass wir schlauer sind als Meerjungfrauen. Wohl aber ist es wahr, dass nicht alle sich so gefühlsmäßig berühren lassen, wie sie, die jedes Mal bis in ihr Inneres gerührt wurde, wenn sie das Mondlicht sah und dieses seltsame Lied aus der Ferne hörte -





- und eines Nachts fühlte sie eine so starke Emotion, dass sie nicht mehr in ihre Welt am Meeresgrund zurückkehren wollte, sondern den Strahlen des Mondes folgte, dem Lied folgte, das vermeintlich von ihm kam. Sie schwamm im Wasser eines Flusses landeinwärts, um der Stimme, die so melancholisch und traurig sang, so nahe wie möglich zu kommen. Je näher sie kam, desto mehr nahm ihre Emotion zu. Um einen großen Felsen zu umgehen, war der Fluss an einem Punkt seines Laufs gezwungen, eine enge Kurve zu machen, die geradezu einem Ellbogen glich.





An deren Ausgang befand sich die Sirene plötzlich vor dem Wolf, der gerade in diesem Moment auf dem Bogen einer alten Brücke stand und im Mondlicht sein sehnsüchtiges Lied sang. Als die schöne Meerjungfrau jedoch aus dem Wasser des Flusses auftauchte, hörte der Wolf sofort auf mit seinem Lied.





Ein Moment tiefer Stille trat ein. Zum Glück, aber vielleicht auch, weil er neugierig war, versteckte sich der Mond in diesem Moment nicht hinter einer Wolke, sondern beleuchtete diese Szene mit seinem milden Licht. Die Stille zwischen den beiden vermischte sich ihrem großen Erstaunen. Der Wolf meinte, er würde vielleicht träumen, denn er war sicherlich der erste seiner Gattung, der einer Meerjungfrau begegnete und diese wiederum verspürte eine leichte Enttäuschung, als sie bemerkte, dass nicht der Mond gesungen hatte, sondern ein alter grauer Wolf.





Es war ein kurzer Augenblick der Stille, aber lang genug, damit sich die Blicke der beiden begegnen konnten. In diesem Kontakt ihrer Augen verschwand die Enttäuschung der Meerjungfrau und das Erstaunen des Wolfes löste sich auf. In dieser Begegnung ihrer Blicke erkannten sie gegenseitig ihre Einsamkeit und sie verstanden einander, ohne zu sprechen, ohne zu handeln.





Mit ihren Blicken tauschten sie ihre Welten aus und erzählten sich ihr Leben. Der Wolf sprach mit seinen hellen Augen, hell wie nur das Licht des Mondes hell ist und erzählte von den Farben im Schatten des Waldes, von Pilzen, von Herbstblättern, von Primeln und Veilchen im Frühling.





Die Meerjungfrau sprach mit ihren klaren Augen, klar wie das Wasser des Meeres, klar wie der silberne Spiegel des Mondes auf dem Meer, von den Wundern der fantastischen Farben ihrer Unterwasserwelt.





Und in den Herzen der beiden prägten sich Bilder und Gemälde der ihnen unbekannten Welten ein, sie wurden erfüllt von noch nie gesehenen Farben und Eindrücken der fremdartigen Dimensionen, die sich für die beiden in ihrer Begegnung öffneten.





Von diesem Moment an fühlten sich weder der Wolf noch die Sirene nie mehr so allein wie zuvor. Stattdessen blieben sie durch ihre Freundschaft und ihr Verständnis miteinander verbunden und jedes Mal wurde das Licht des Vollmonds zu einem Vermittler, um sie wieder zusammen zu führen und sich zu treffen. In ihren Herzen vertiefte sich immer mehr die Anschauung ihrer vielfältigen Farben und die Wertschätzung für ihre so gegensätzlichen Welten nahm immer mehr zu.





Durch den lächelnden Mond vereint, entwickelten sie trotz ihrer so grundsätzlichen Verschiedenheit eine innere Übereinstimmung. Sie schätzten einander immer mehr und respektierten ihre gegenseitige Würde. Natürlich konnten sie sich nicht einfach umarmen, wie es anderen so einfach möglich ist, aber sie fanden zu einer solchen Harmonie, die nicht den körperlichen Kontakt brauchte, sondern aus dem Einklang ihres Verstehens und ihrer Wertschätzung, die so lange dauern, wie der Mond voll und rund scheint.





Die Illustrationen entstanden 2007 während eines Workshops, dem dieses Märchen zugrunde lag, in Borghetto d'Arroscia durch die damals beteiligten Kinder:

Alice Giacchino
Angela Fueri
Anna Fueri
Emanuele Contestabile
Fabiola Rainaldi
Francesca Falone
Ludovico Ferrari
Luisa Ferrari
Nadia De Velo
Rachele Peirano
Sara Manzone
Valentina Falone



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