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Die Welt des Wolfs

Die Leidenskraft


leidenskraft

Credit: Ladislav Záborský


1

Ein Mensch wollte alles Leiden
sein Leben lang vermeiden,
er meinte, er könne es nicht ertragen
und wollte ihm ein Schnippchen schlagen.

Er gab acht auf sein körperliches Wohl,
beugte allen Krankheiten und Gefahren vor
und kontrollierte sein emotionales Gebaren,
um sich auch vor Seelenweh zu bewahren.

Dieses und noch mehr half ihm eine Weile,
denn die Leiden haben keine Eile,
doch eines Tages, ohne Warnung,
half ihm nicht mehr seine Tarnung.

2

Ein Schmerz erfasste seinen Bauch
und seine heitere Stimmung auch,
von Arzt zu Arzt begann ein langer Weg,
doch die Beschwerden gingen nicht mehr weg.

Was nicht passieren durfte nach seiner Räson,
das hatte ihn am Kragen schon,
er litt und sah auch andere so leiden,
in seiner Angst hörte er schon die Todesglocke läuten.

An Religiösem war er nie interessiert,
die Geschichte von Hiob hatte ihn stets irritiert,
doch einmal, in einem verzweifelten Moment,
wurde sein Blick auf ein Bild des Gekreuzigten gelenkt.

3

Er fragte sich spontan: "Mit welcher Kraft
hat dieser bloß seinen Leidensweg geschafft?
Ich bin zu nichts mehr in der Lage
und ertrage nicht meine chronische Plage."

Da hörte er eine Stimme, aber es war alles leise,
sie sprach zu ihm auf milde Weise:
"Ich kenne deine und aller Menschen Schmerzenszeit,
keiner von euch entgeht im Leben seinem Leid.

Ich war ein Mensch und bin Gottes Sohn,
schlimmer als du, litt auch ich schon,
durch meine Schmerzen habe ich erfahren,
wie schwer es ist, sein Schicksal zu tragen.

4

Du hast dir die richtige Frage gestellt:
Was hatte mein Tod für einen Sinn in der Welt?
Antworten darauf gibt es viele, sie sind alle richtig,
aber für dich ist nur eine jetzt wichtig:

Ich erwarb mit meinem Tod auf jenem Berge
für alle Menschen eine neue Stärke,
was auch ein Mensch durchzumachen hat an Leid,
für jeden ist diese Kraft bereit.

Die Zweifelnden erhalten von mir Mut,
was falsch geworden ist, mache ich wieder gut,
ich will den Trauernden meinen Trost geben
und führe die Sterbenden in ein neues Leben."

5

Der Mensch, als er dies staunend hörte,
vergaß darüber, die Pein, die in ihm störte,
er dachte plötzlich nicht mehr allein an sich,
sondern erlebte sein Leid als Menschheits-Ich.

Er spürte in sich neue Hoffnung aufgehen,
und zugleich wollte er anderen beistehen,
die wie er gefangen waren in einer Illusion,
statt frei zu sein durch den Gottessohn.

Damit waren seine Beschwerden nicht verschwunden,
aber er hatte seine Lösung gefunden,
mit seinen Schmerzen umzugehen und sie zu akzeptieren,
statt zu fürchten, dass sie sich in ihm rühren.



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